Ein weiterer Oktober



Gestern war es wieder mal so weit.
 
Mir ist der Boden unter den Füßen weggebrochen, als ich durch Badenweiler lief. 
 
 Die Literaturtage sind dieses Wochenende.

Ulrich waren sie immer sehr wichtig. 
Er hat sie (zusammen mit ein paar anderen) ins Leben gerufen 
und war immer ein großer Teil der Organisierung und Veranstaltung.

 Er hat mir immer mit so viel Begeisterung von ihnen erzählt. 
Ich habe mich nie getraut, an den Tagen teilzunehmen.
 
Es sind die Ersten ohne ihn.

Er wird mir nicht, wie die letzten sechs Jahre, von ihnen vorschwärmen. 
Es wird keine Geschichten geben, wie das Mikro mal wieder nicht ging oder viel zu laut war.
Seine Augen werden mich nicht leuchtend ansehen,
während er mir von den Büchern erzählt. 
Er wird mir nie wieder eins schenken.
 
Ich nehme an, es ist keine große Überraschung, dass ein weiteres "Erstes" ohne ihn, die Greifbarkeit seiner Abwesenheit wieder schmerzhaft real gemacht hat.


Aber, wer war Ulrich?
Ich bin mir sicher, dass ein paar von euch sich das fragen.

Ulrich trat im Sommer 2017 in mein Leben.
Er wurde mir damals als gesetzlicher Beistand zur Seite gestellt.
Ich war noch keine Achtzehn, und vollkommen alleine. 

Ich komme aus einer "Familie", die komplett zerbrochen ist. Kurz gesagt, war "zu Hause" kein Platz für mich. Wir waren zu dem Zeitpunkt schon zwei Jahre wieder in Deutschland (wir sind zuvor sieben Jahre in England gewesen), aber ich hatte es nicht geschafft Fuß zu fassen. 

Wir waren, in den zwei Jahren schon vier Mal umgezogen. 
Unsere erste "Wohnung" als wir zurückkamen, war ein Keller "Zimmer". Ja, für die ganze Familie.
Vier von uns, plus Hund und Katze. Der Keller war kalt, dunkel und schimmelig.

Danach kamen wir bei Freunden unter, die bald keine mehr waren. 

Die dritte "Wohnung" war mehr eine Lagerhalle. 
Wieder, ein Zimmer, nur kam jetzt noch mein Stiefvater dazu. 
Er ist Nigerianer und, wenn ich das so sagen darf, ein richtiger Mistkerl.
 
Ein Jahr lang habe ich auf dem Boden, auf einer durchgelegenen Klappmatratze geschlafen.
Es gab keinen Rückzugsort von den Streitereien und dem konstanten Gebrüll der Familie. 

Als das Jugendamt und die Diakonie Müllheim sich endlich entschieden einzugreifen, waren wir in unserer vierten Wohnung. 
Eine "Notunterkunft". 
Nur für kurze Zeit hieß es.

Keine Heizung. Ein defekter Boiler. 
Löcher in den Zimmertüren und weder Tapete noch Farbe an den Wänden. 

"Sie sollten dankbar sein, dass sie überhaupt etwas bekommen", sagte der Kerl vom Rathaus zu mir.
Zu mir, einem Teenager, die nichts für die Situation konnte, in die das Schicksal sie gerissen hatte.
All die Jahre später, und ich kann ihm das noch immer nicht verzeihen.

Meine Mutter verlangte, dass ich gehe (da sonst mein "Stiefvater" gehen würde)
Sie drohte, mich herauszuschmeißen. 
Ihre Tochter.
Wegen eines nutzlosen Versagers, der nicht mehr getan hat, als die Familie bluten zu lassen.

In diesem Chaos kam, wie durch Gotteshand, Ulrich. 

Es brauchte nur einen Blick. 
Einen Blick, in einem kleinen Zimmer der Diakonie,
zwischen einem älteren Herrn mit einem Herzen aus Gold, 
und einem gebrochenem Mädchen, 
die nicht wusste, was es bedeutet, sicher und geliebt zu sein.

Es war als hätten wir uns schon immer gekannt.
Würde ich an so etwas glauben, würde ich sagen, wir kannten uns aus einem anderen Leben.
Ein Seelenverwandter.

Viele von uns gehen durch unser ganzes Leben, und haben nie das Privileg, so einen Menschen kennenzulernen.


Ich werde euch, im Laufe der Zeit, unsere Geschichte erzählen.
Wie er zu meinem Papa wurde,
wenn auch nicht offiziell.

In seinem Andenken werde ich jeden Blogpost mit einem Zitat beenden, das mich an ihn erinnert.

"Nimm mir das Brot, die Luft, nimm mir das Licht, den Frühling, aber niemals dein Lachen, sonst würde ich sterben." - Pablo Neruda







 

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